Die Schweizer Knolle wächst über sich hinaus
Wie mögen Sie Ihre Kartoffeln am liebsten, als Pommes frites, Kartoffelstock, Rösti, Chips oder Salzkartoffeln? Die nährstoffreiche Knolle lässt sich auf vielfältige Weise zubereiten – und die Schweizer wissen das zu schätzen. Pro Kopf werden jährlich mehr als 40 kg verzehrt. Fast so viel wie Käse. Müsste man das Nachtschattengewächs da nicht zum nationalen Symbol erheben?
Im Schweizer Mittelland hätte sie diese Auszeichnung allemal verdient, denn zwei Drittel der 350 000 Tonnen, die jährlich landesweit produziert werden, entfallen auf die Kantone Bern, Freiburg und Waadt. «Die Kartoffel ist eines der seltenen Knollengewächse, die man bei uns wirklich überall findet», erläutert Ruedi Fischer, Präsident der Schweizerischen Kartoffelproduzenten und Landwirt in Bätterkinden, im Norden des Kantons Bern. Aber im Mittelland spielt sie eine besondere Rolle. Das hat mit der Bodenbeschaffenheit, dem Klima und den grossen Betrieben zu tun, die sich hier niedergelassen haben und die Kartoffeln direkt verarbeiten.» Sie beziehen rund 50 % der Erntemenge, Tendenz steigend.
Über tausend sorten
Bei Familie Marendaz in Chamblon (VD) ist die Kartoffel die Königin auf dem Feld, wo sie 90 % des Gesamtumsatzes erzielt. Der Betrieb im nördlichen Waadtland ist ein Beispiel für die enorme Vielfalt des in den Anden beheimateten Nachtschattengewächses: Hier werden Agria, Charlotte, Desiderate, Jelly und Blaue St. Galler angebaut. «Weltweit gibt es über tausend Sorten, rund 50 von ihnen stehen in der Schweiz auf der offiziellen Sortenliste», erklärt Jonathan Marendaz.
Jede hat ihre eigene Farbe, ihren eigenen Geschmack und Zweck, und das weit über die recht allgemeinen Kategorien «mehligkochend» oder «festkochend» hinaus. «Für Chipshersteller sind eher die Sorten relevant, die einen hohen Anteil an Trockenmasse aufweisen und sich leicht schälen lassen.»
Wie überall in der Schweiz (siehe Kasten) ist auch bei Familie Marendaz die Sorte Agria die unangefochtene Nummer eins. «Sie wird gern zu Pommes frites verarbeitet, sie eignet sich aber für so ziemlich alles», so der Landwirt weiter. Wenn die Erntezeit beginnt, darf er bei all den verschiedenen Sorten nicht den Überblick verlieren und er muss seinen Lagerbestand richtig verwalten, um die Privatkunden und Restaurants der Region das ganze Jahr über beliefern zu können. «Der Anbau von Agria ist mitunter heikel, dafür lässt sie sich gut einlagern. Mit der Sorte Jelly ist es umgekehrt. Sie ist recht unkompliziert im Anbau, muss aber in den ersten Monaten nach der Ernte in den Verkauf. Wir haben noch längst nicht ‹die› ideale Sorte gefunden.»
Denn der Kartoffelanbau ist kein Selbstläufer. Pierre-Laurent Gavillet, einer der drei Gründer des Unternehmens Jaton-Gavillet in Peney-Le-Jorat (VD), kann dies bestätigen: «Normalerweise kann man einen Ertrag von bis zu 45 Tonnen pro Hektare erzielen. Wegen der grossen Hitze kamen wir bei den letzten drei Ernten aber eher auf 30 bis 35 Tonnen.»
Agria wird gern zu Pommes frites verarbeitet, die Sorte eignet sich aber für so ziemlich alles.
Kein Röstigraben beim kartoffelverzehr
Laut den Statistiken des nationalen Dachverbands Swisspatat ist Erika der Liebling der Schweizer Konsumenten. Die festkochende Knolle mit ihrer schönen gelben Farbe lässt sich wunderbar im Gratin, Kartoffelstock oder Salat verarbeiten und macht 14 % der im Einzelhandel verkauften Sorten aus. Die am häufigsten kultivierte Kartoffelsorte ist sie aber nicht. An der Spitze der Rangliste steht Agria: Sie gedeiht auf 18 % der 10 700 Hektaren grossen Anbauflächen und ein Grossteil wird industriell verarbeitet. «Wir beobachten seit einigen Jahren, dass die Verbraucher zunehmend auf dieses Segment und immer weniger auf Frischware zurückgreifen», so Ruedi Fischer.
Der Präsident der Schweizerischen Kartoffelproduzenten und Vizepräsident von Swisspatat kann jedoch keinen Röstigraben in der Kartoffelbranche verzeichnen. «Die Rangliste der meistverzehrten Sorten ist in allen Sprachregionen gleich. Selbst solche, die früher typisch für die Genferseeregion waren – wie die Amandine – werden heute schweizweit angebaut.»
In Sachen Kartoffelkonsum sind Deutschschweizer und Romands in diesen regnerischen Monaten gleichauf: «Normalerweise gehen die Verkäufe in den Sommermonaten zurück. In diesem Jahr ist das nicht der Fall.»
Kurze zeitfenster in diesem jahr
Die seit April anhaltenden starken Niederschläge machten den Erzeugern einen Strich durch die Rechnung. «Idealerweise kommen die Pflanzkartoffeln von Mitte April bis Mitte Mai in die Erde», ergänzt Pierre-Laurent Gavillet. «Aber dafür braucht es einen trockenen Boden. In diesem Jahr waren die Zeitfenster, in denen man unter guten Bedingungen arbeiten konnte, sehr kurz.»
Seitdem ist der Kartoffelbauer zuversichtlich und rechnet mit einer guten Saison. «Es war ziemlich kühl und ausreichend feucht. Kartoffeln mögen dieses Klima.» Das Problem? Die Kraut- und Knollenfäule mag es auch. «Damit sie sich ausbreiten kann, müssen eine Luftfeuchtigkeit von annähernd 100 % und Temperaturen über 12 °C vorherrschen, und das mehr als 48 Stunden am Stück. Für die Kartoffelfäule ist es ein idealer Sommer.»
Seit dem Frühjahr ist der Befallsdruck konstant geblieben. Dennoch sind nicht alle Regionen gleichermassen von der Pilzkrankheit betroffen. Während die Ausbreitung auf dem Landgut Jaton-Gavillet schnell eingedämmt werden konnte, zeigt bei Jonathan Marendaz ein ganzes Feld das typische Schadbild: verbranntes Laub und verfaulte Knollen.
«Die Sporen sind extrem ansteckend, erläutert Pierre-Laurent Gavillet. Sie befallen das Laub und gelangen mit dem Regen in die Erde, wo sie die Knollen erreichen, die verfaulen und sich verflüssigen. Und wenn nach der Ernte eine Knolle befallen ist, infiziert sie den gesamten Lagerbestand. Ich habe ganze Berge buchstäblich dahinschmelzen sehen.»
Besonders biobauern sind betroffen
Dieser aus Nordamerika stammende Schädling war es auch, der 1845 die letzte grosse Hungersnot in Europa auslöste.
«Irland traf es damals besonders heftig», berichtet der Landwirt aus der Ortschaft Peney-le-Jorat. «Knapp zwei Jahrhunderte später haben wir noch immer keine Lösung für dieses Problem gefunden. Es gibt ein paar Massnahmen, um den Pilz zu bekämpfen. Allerdings handelt es sich dabei um präventive Behandlungsmethoden, die in erster Linie die Ausbreitung eindämmen», erklärt Jonathan Marendaz.
Besonders besorgniserregend ist die Lage bei den Bauern, die auf den ökologischen Landbau umgestellt haben. Ruedi Fischer schätzt, dass sie diesen Sommer mit 50 % Verlusten zu kämpfen haben werden. Darüber hinaus sind ihre Waffen gegen den Schädling noch stärker reglementiert: ausschliesslich Kupferpräparate sind erlaubt. Kein Wunder also, dass der biologische Kartoffelanbau in der Schweiz nur eine untergeordnete Rolle spielt: 1000 Hektaren werden unter dem Bio-Label, 9700 Hektaren konventionell bewirtschaftet.
Die Investitionskosten zu Beginn der Saison sind hoch: Pro Hektare muss man mit 10 000 Franken rechnen.
Eine spekulative kulturpflanze
Dem «Härdöpfel» drohen mit dem Kartoffelkäfer oder dem Drahtwurm jedoch noch weitere Gefahren. «Allen Schwierigkeiten zum Trotz bleibt der Kartoffelanbau aber ein Marktsegment mit hohem Mehrwert», behauptet Jonathan Marendaz. «Wir haben es mit einer spekulativen Kulturpflanze zu tun. Die Investitionskosten zu Beginn der Saison sind hoch: Pro Hektare muss man mit etwa 10 000 Franken rechnen. In einem schlechten Jahr können Sie die noch nicht einmal zurückzahlen, während Sie in einer guten Saison bis zu 25 000 Franken Umsatz pro Hektare erzielen können», ergänzt Pierre-Laurent Gavillet.
Wird sich die Knolle in der Schweiz letztlich gegen Schädlinge und Wetterkapriolen behaupten können? «Die Nachfrage der Konsumenten ist nach wie vor sehr hoch, aber es wird schwierig», fügt Jonathan Marendaz hinzu. «Wenn man bedenkt, dass Ägypten einer der europäischen Hauptlieferanten in diesem Marktsegment ist, sollte man meinen, dass wir der Klimaerwärmung noch eine Weile standhalten können. Es sind eher die meteorologischen Extreme, die schwierig zu bewältigen sein werden.»
Diese problematische Entwicklung ist zum Teil auf die milden Winter zurückzuführen. «Wir bräuchten anhaltende Frostperioden, damit die Schädlinge zumindest teilweise abgetötet werden, aber die gab es seit einigen Jahren nicht mehr», beteuert Ruedi Fischer.
Die Thematik beschäftigt die Landwirte in der gesamten Schweiz, aber auch in allen anderen europäischen Ländern, so der Präsident des nationalen Dachverbands. «Für uns hat diese Problematik höchste Priorität.»
Brice Dupuis, der Leiter des «Kartoffel-Forschungsprojekts» bei Agroscope betont: «Die Branche zeigt sich sehr dynamisch. Swisspatat fördert zum Beispiel die Suche nach robusteren Sorten und somit den geringeren Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Dies kommt natürlich der Umwelt zugute. Es geht aber auch um das Image der Branche und um die damit verbundenen Kosten für die Produzenten.»
Resistente jungpflanzen im fokus
Was ist eigentlich aus der in der Schweiz so beliebten Bintje geworden? In den letzten 15 Jahren wurde sie nur noch selten gepflanzt, weil sich ihr Anbau als problematisch erwiesen hat. Brice Dupuis, der Leiter des «Kartoffel-Forschungsprojekts» bei Agroscope, erklärt: «Leider zeigt sie viele Mängel. Sie ist unter anderem sehr anfällig für die Kraut- und Knollenfäule und wurde mittlerweile von neuen, widerstandsfähigeren Sorten verdrängt.» Die Kartoffelbauern sind gezwungen, sich fortwährend anzupassen. Bei Kraut- und Knollenfäule ist eine Behandlung mit Pflanzenschutzmitteln unvermeidlich.
Die Mittel zur Bekämpfung sind jedoch begrenzt: In der Schweiz gelten strenge Umweltschutzbestimmungen und die Liste der zugelassenen Produkte wird regelmässig überprüft. Und selbst diese sind kein Allheilmittel, denn der gefürchtete Pilz setzt sich rasch gegen Fungizide zur Wehr.
Die Erforschung neuer Behandlungsmethoden geht also weiter. Der Schutz der Felder wird – so Brice Dupuis – am ehesten mithilfe neuer Sorten gelingen. Jährlich erobern 24 von ihnen die Anbauflächen des Landes. «Sie durchlaufen zweijährige Standorttests, woraufhin ein Dutzend von ihnen in die engere Auswahl kommt. Anschliessend werden sie in den Betrieben des Swisspatat-Branchennetzwerks weiteren Versuchen unterzogen. Nach diesen vier Jahren werden durchschnittlich zwei neue Kartoffelsorten in die Sortenliste aufgenommen.»
Dieses strikte Auswahlverfahren richtet sich nach zahlreichen Kriterien, insbesondere nach qualitativen und ästhetischen Gesichtspunkten. «Der Schwerpunkt liegt inzwischen auf der Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten und der Anfälligkeit gegenüber Trockenheit.» Eine Dissertation zu diesem Thema stehe kurz vor dem Abschluss und die Finanzierung einer neuen Studie wurde unlängst vom Bundesamt für Landwirtschaft bewilligt.
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