Genusspaten zwischen Urwüchsigkeit und Spitzenqualität

Auf Schloss Reichenau machen Gian-Battista und Johann-Baptista von Tscharner die charaktervollen und lagerfähigen Weine Graubündens zu ihrem Aushängeschild. Das Weingut der Botschafter der Genusswoche birgt aber noch weitere Schätze.
11 septembre 2024 Sylvain Menétrey
Auf Schloss Reichenau bauen Johann-Baptista und Gian-Battista von Tscharner unter anderem Completer an, eine legendäre Rebsorte aus Graubünden.
© Jürg Waldmeier
Auf Schloss Reichenau bauen Johann-Baptista und Gian-Battista von Tscharner unter anderem Completer an, eine legendäre Rebsorte aus Graubünden.
© Jürg Waldmeier
Auf Schloss Reichenau bauen Johann-Baptista und Gian-Battista von Tscharner unter anderem Completer an, eine legendäre Rebsorte aus Graubünden.
© Jürg Waldmeier

Eine bleierne Hitze liegt über Reichenau. Zwischen den weitläufigen Gebäuden mit weissen Fassaden, die den Bündner Weiler am Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein schmücken, ist es nicht ganz einfach, das Schloss der Familie von Tscharner im schlichten klassischen Stil auszumachen.

Hinter der schweren Holztür mit der Eingangsglocke begrüsst uns Johann-Baptista von Tscharner, Sohn von Gian-Battista von Tscharner, der wiederum der Spross von Johann-Baptista, genannt «Hans», ist … Der jüngste, der das Handwerk von seinem Vater gelernt hat, bevor er an der Hochschule in Wädenswil studierte, übernahm im vergangenen Jahr die Leitung des Familienbetriebs. Trotz der schmerzhaften Hüfte des Seniors arbeiten die beiden Männer immer noch gemeinsam in ihren Rebbergen, die zwischen Maienfeld, Jenins, Chur, Felsberg und Domat/Ems auf 6 Hektaren verstreut sind. «Ich habe meinen Sohn ausgehalten, und jetzt hält mein Sohn mich aus!» scherzt Gian-Battista mit seiner markanten Stimme.

Aufbewahrung von Wein

Johann-Baptista ist ruhiger und besonnener als sein Vater. Er erklärt uns, dass er die Weinbereitung in Reichenau nicht grundlegend revolutioniert hat und weiterhin charaktervolle, sehr originelle Weine erzeugen möchte. Dennoch feilt er an einigen zeitgemässen Feinheiten. «Es zeigt sich, dass frische Weissweine mit betonter Säure immer begehrter werden. Ausserdem möchte ich Rotweine anbieten, die weniger tanninhaltig sind.»

Eine Reduzierung des aus 21 Crus bestehenden Produktsortiments ist ebenfalls geplant. Der Pinot Noir bleibt das Zugpferd des Weinguts, aber eine eher belanglose Rebsorte wie der Gewürztraminer wurde durch eine neue Parzelle Completer ersetzt. Dieser legendäre Bündner Wein, zu dessen Rettung Gian-Battista seit den 1970er Jahren massgeblich beigetragen hat, galt nahezu als verschwunden.

Da die Rebsorte wenig Ertrag bringt und einen extremen Säuregehalt aufweist, ist sie kompliziert im An- und Ausbau. Sie wird bis zu sechs Jahre im Barriquefass gelagert, wo ihr Gärungsprozess erstaunliche Entwicklungen durchlaufen kann (bei einem Jahrgang der von Tscharners kam es nach mehreren Jahren sogar zu einer zweiten Gärung). Das Ergebnis ist ein oxidativ ausgebauter Wein mit einem hohen Alkoholgehalt und einer schönen Bernsteinfarbe. Sein komplexes Aroma mit Anklängen von Nüssen, Honig und reifen Früchten verschmilzt mit der natürlichen Säure. Wie alle anderen Erzeugnisse des Weinguts ist auch dieser Wein lagerfähig.

Wir sind ganz gewöhnliche Menschen, keine Gutsherren.

Die von Tscharners, die sich für das Lagerungspotenzial von Wein aussprechen, haben im Übrigen an der Gründung des Archivs «Mémoires des vins suisses» mitgewirkt. Bei diesem weltweit einmaligen Projekt wurden 30 000 Flaschen Wein von 59 Weingütern, die der Vereinigung angehören, in einem Weinkeller in Zürich eingelagert, um ihren Entwicklungs- und Alterungsprozess Jahrgang für Jahrgang zu dokumentieren. Nicht alle neuen Anhänger, die Completer kultivieren, bringen diese Geduld auf, sondern keltern ihn, um ihn jung zu trinken.

Gian-Battista stört das sehr: «Es gibt gerade einen regelrechten Boom. Dabei ist das, was sie daraus machen kein Completer, sondern lediglich ein moderner Weisswein.» Die von Tscharners gelten gemeinsam mit Giani Boner in Malans (GR) als die besten Completer-Produzenten. Sie befürchten jedoch, dass sich die Kunden von der Rebsorte abwenden könnten, weil sie einen jungen Wein probiert haben, der nur vage dem entspricht, was die Winzer und Schlossherren von Reichenau nach allen Regeln der Kunst entwickeln.

Beispielhafte Botschafter

Die Genusswoche hat dieses gegensätzliche Erfolgs-Duo zu den Botschaftern ihrer nächsten Ausgabe ernannt, die vom 12. bis 22. September stattfindet. Als Schweizer Genussregion 2024 steht die nur einige Dutzend Kilometer von Reichenau entfernte Valposchiavo im Mittelpunkt. «Wir wollten Winzer, die die Tradition des Deutschschweizer Weins verkörpern. In dieser Hinsicht sind die von Tscharners mit ihrem Pinot Noir und ihrem Completer beispielhaft. Auch ihre Geschichte und die Übertragung  des Familienbetriebs vom Vater an den Sohn sind bemerkenswert», begründet der Direktor der Genusswoche, Josef Zisyadis.

Die Gesichter des kulinarischen Events sind stolz auf ihre Nominierung, auch wenn sie zugeben, dass es in ihrer Region noch wenig bekannt ist. «Die Genusswoche ist in der Westschweiz bereits etabliert, aber hier in der Region steht sie erst am Anfang», erklärt Johann-Baptista. Er amüsiert sich über die verhaltenen Reaktionen nach ihrer Ernennung im eigenen Kanton, während es bei einem Treffen junger Schweizer Weinbauern bei Javet & Javet im Vully kürzlich stürmische Umarmungen und überschwängliche Glückwünsche gab.

Zarte Spitzen im Schlossgarten

Ein weiteres, buchstäblich herausragendes Produkt lugt aus dem sandigen Boden des Rheinufers hervor. Wegen seiner unvergleichlichen Zartheit reissen sich Spitzenköche wie Privatkunden um den weissen Spargel des Weinguts, der nur in kleinen Mengen in den Verkauf kommt.

«Das ist eine amüsante Geschichte – und eine glückliche Fügung. Wir bauen seit über hundert Jahren für den Eigenbedarf und für das ehemalige Hotel Spargeln an. Da uns durch die Arbeit im Rebberg aber die Zeit fehlt, ihn täglich zu ernten, wächst er bei uns nicht in Erdwällen, sondern unter schwarzen Plastikplanen, die verhindern, dass er grün wird. So reicht es, wenn wir ihn zwei- bis dreimal pro Woche mit dem Messer ernten», erklärt Gian-Battista. Dieser längere Wuchs ausserhalb des Erdreichs, aber geschützt vor UV-Strahlen, verleiht ihnen die zarte Spitze eines grünen Spargels, während sie ihre schimmernde weisse Farbe bewahren.

Ich möchte, dass man irgendwann beim Verkosten eines Burgunders an Bündner Weine denkt.

In Reichenau mischt sich die Tradition samt ihrem Adelsprädikat und der patronymischen Namensweitergabe mit einem Hauch Ikonoklasmus. Der Senior, der sich selbst gern als «Hofnarr von Reichenau» bezeichnet, besticht durch seinen trockenen Humor. «Wir sind ganz gewöhnliche Menschen, keine Gutsherren. Und wenn man fünfzig Jahre lang ein Unternehmen führen muss, bei dem man mit den Behörden, dem Verwaltungswesen und der Denkmalpflege zu tun hat, erhält man mehr Unterstützung, wenn man als Armleuchter statt als Alleskönner durchgeht», scherzt er.

Erfolgreiches Comeback

Mit seinen 73 Zimmern und den gewaltigen Treppen ist das Schloss ein fantastischer Ort für Kinder, die hier unendlich viele Verstecke und Spielmöglichkeiten finden, wie Johann-Baptista aus eigener Erinnerung weiss. Es zu unterhalten ist hingegen alles andere als ein Kinderspiel. Ursprünglich stammt das Anwesen aus dem Besitz des mütterlichen Familienzweiges der von Mantas, deren prachtvolle Porträts die Wände zieren.

Gian-Battista erbte es von seiner Mutter, die in den 1970er Jahren umfangreiche Modernisierungsarbeiten vornehmen liess, um das Herrenhaus, das lediglich in den Sommerferien genutzt wurde, ganzjährig bewohnbar zu machen. Die Renovierungsarbeiten, die durch den Verkauf des Familiensitzes in Zürich finanziert wurden, verschlangen das Erbe.

Die Freunde des Schlosses

Abgesehen davon, dass sie im Winter lieber einen dicken Pullover tragen, statt die Heizung aufzudrehen, mussten die von Tscharners eine ganze Reihe von Massnahmen ergreifen, um nicht von den anfallenden Kosten des Gebäudes überrollt zu werden. Francesca, die Schwester von Johann-Baptista, leitet den Eventbereich des Unternehmens – Reichenau ist eine beliebte Location für Hochzeiten –, das den Wein- und Gemüseanbau sowie die Immobilienaktivitäten des Anwesens unter einem Dach vereint. Der Verein «Freunde Schloss Reichenau» mit über hundert Mitgliedern unterstützt bestimmte Restaurierungsprojekte.

«Um die nächste Generation abzusichern, prüfen wir jedoch die Möglichkeit, das 30 Hektaren grosse landwirtschaftliche Anwesen in Bauland umzuwandeln, wenn der Landwirt und Betreiber seine Tätigkeit einstellt. Dieses Projekt beschäftigt uns seit drei Jahren und wird uns wohl noch einige Zeit beschäftigen, da hierbei auch Fragen des Kulturerbes und des Denkmalschutzes eine Rolle spielen.»

Ich erinnere mich, dass ein Walliser Restaurant von den Winzern des Kantons boykottiert wurde, weil es einen unserer Weine auf die Karte gesetzt hatte!

Obwohl der Wein das Leben auf dem Schloss nicht vollständig finanziert, beschert er den von Tscharners allen voran in der Westschweiz ein wachsendes Renommee. «Unsere Pinot Noirs sind in Lausanne und Genf sehr gefragt, was uns sehr freut, denn vor einigen Jahren hatten die Bündner Weine dort keinen guten Ruf», sagt Johann-Baptista. Sein Vater ergänzt: «Ich erinnere mich sogar, dass ein Walliser Restaurant von den Winzern des Kantons boykottiert wurde, weil es einen unserer Weine auf die Karte gesetzt hatte!»

Tag und Nacht

Graubünden bietet mit seinen kalk- und schieferhaltigen Böden, deren Ströme von den Gipfeln bis ins Tal erkennbar sind, ideale Bedingungen für den Pinot-Anbau, die denen des Burgunds nahezu gleichen. Zu diesem mageren, mineralischen Boden gesellt sich ein alpines Klima. «Ab September sind die Nächte kühl. Der Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht begünstigt die Reifung der Trauben. Wir profitieren zudem von der globalen Erwärmung, auch wenn sich dieser Vorteil in einigen Jahren umkehren könnte», bemerkt Johann-Baptista.

Die sieben Pinot-Noir-Sorten des Weinguts entfalten alle ihren eigenen Charakter. «Der Pinot in Felsberg ist der einzige auf der linken Rheinseite. Er ist nach Süden ausgerichtet und wächst an einem Hang, der für diese Rebe eigentlich zu warm ist. Aufgrund des kargen Bodens ist er auch der mit der ausgeprägtesten Säure.

Während der Lagerung im Keller versuchen wir dann, die besten Attribute jedes Weins herauszuarbeiten.» Wie am Beispiel des Churer Blauburgunders «Gian-Battista», der dreissig Monate in 2021er Barriques reifte und im Keller degustiert wird. Er erinnert an die Eleganz eines grossen Burgunderweins, mit einer wilden Note, die uns ins Schwärmen geraten lässt. «Ich möchte, dass man irgendwann beim Verkosten eines Burgunders an Bündner Weine denkt», erwidert Gian-Battista von Tscharner.

Trotz des Falschen Mehltaus, der sich aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit in diesem Frühsommer ausgebreitet hat, bleibt das Vater-Sohn-Gespann optimistisch. «Eigentlich können wir nicht klagen», bestätigt der jüngere von beiden. Der biologische Weinbau wird von den Winzern immer weiter vorangetrieben und der Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln zugunsten einer maschinellen Rodung eingestellt. Zusätzliche Arbeit für das kleine Team, das aus dem Sohn, dem Vater und zwei Angestellten besteht. Jedoch mit der Genugtuung, dazu beigetragen zu haben, das beschauliche Graubünden zu einer ganz grossen Region des Schweizer Weinbaus zu machen.

+ Infos www.gout.ch

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